Budapest

Um 89 n. Chr. gründeten die Römer ein Militärlager im Gebiet der keltischen Eravisker, um das die Siedlung Aquincum entstand, von 106 bis 296 Hauptstadt der Provinz Pannonia inferior. Ab Ende des 4. Jh. drangen Germanen, Hunnen, Alanen und Slawen ein. Ab 896 wurden diese von den Magyaren verdrängt. Buda und Pest gelangten zu immer grösserer Bedeutung für die im 10./11. Jh. sesshaft werdenden und christianisierten Ungarn. Beim Mongolensturm wurde 1241 ein ungarisches Heer besiegt, viele Städte zerstört. 1308 wurde Pest erneuert, 1361 zur Hauptstadt erhoben. Seit 1446 griffen wiederholt die Osmanen an, 1526 fielen Pest und grosse Teile Ungarns in ihre Hände. Nach 1541 wurde Buda/Ofen zum Sitz eines türkischen Paschas. Nach der Belagerung von Buda während des Grossen Türkenkriegs 1684-86 gelang es den Habsburgern, die Osmanen zu vertreiben. Seit 1723 war Pest das administrative Zentrum des Königreichs Ungarns, 1780 erklärten die neuen Herrscher Deutsch zur Amtssprache. Immer mehr Menschen zogen in die rasch wachsende Metropole an der Donau. 1848/49 lehnten sich die Ungarn vergeblich auf gegen die Habsburger-Herrschaft. 1873 wurden Buda, Òbuda und Pest zusammengelegt. Im Umfeld des Milleniums, der Jahrtausendfeier der ungarischen Landnahme wurden 1896 viele Bauten eröffnet oder begonnen, die das Stadtbild von Budapest bis heute prägen. 1918/19 formierte sich eine Räterepublik. Nach deren Sturz wurde das Königreich Ungarn formell wiederhergestellt, als Reichsverweser regierte Miklós Horthy. Unter deutscher Besatzung herrschten 1944/45 die faschistischen Pfeilkreuzler, bis die sowjetischen Streitkräfte sie besiegten. Die Kommunisten gelangten an die Macht und riefen 1949 die Volksrepublik Ungarn aus. Budapest war Ende Oktober 1956 der Ausgangspunkt einer antisowjetischen Massenerhebung, die blutig niedergeschlagen wurde. Das Burgviertel von Buda und das Donaupanorama gelten seit 1987 als UNESCO-Welterbe; die Stätte umfasst seit 2002 auch die Andrássy út in Pest.

Budapest Panorama
Budapest – Blick vom Burgpalast Buda zur Kettenbrücke & Pest (Foto: RF, Aug. 2017)

Budavári Palota, der von weitem sichtbare Palast thront über der Donau. Das Fundament für den Burgpalast von Buda wurde im 13. Jahrhundert gelegt. Seitdem haben die wechselnden Herrscher von Ungarn den Palast immer neu an- oder umgebaut, bis am Ende des Zweiten Weltkriegs 1944/45 grosse Teile zerstört wurden. Das kommunistische Regime liess das Äussere des Palasts rekonstruieren, doch erst 2014 wurden die letzten Burgteile wieder in den Zustand vor den Bombenangriffen zurückversetzt. Genutzt werden sie heute grösstenteils von Museen. Den prominentesten Platz sicherte sich die Magyar Nemzeti Galéria, die auf mehreren Etagen die wichtigsten Kunstwerke Ungarns ausstellt. Die Nationalgalerie ist ein modernes Kunstmuseum mit einer beindruckenden Sammlung, die grösstenteils chronologisch und in den von Westeuropa her bekannten Stilepochen angeordnet ist. Das benachbarte Budapesti Történeti Múzeum erzählt die Geschichte Budas vor allem anhand des vorliegenden Bauwerks selbst nach. Dabei zeigt das BTM nach einem Einstieg mit archäologischen Fundgegenständen vor allem Kunstwerke, die Einblick erlauben in die Machthaber, die vom Burgberg aus die Geschicke Ungarns bestimmten. Vor dem Palast fliegt ein riesiges Turul, das sagenhafte Fabelwesen aus der ungarischen Mythologie wurde 1905 als Statue aufgestellt. Nicht weit vom Burgpalast entfernt liegt die wunderbar verspielte Fischerbastei, die 1895 an der Stelle des mittelalterlichen Fischmarkts gebaut wurde. Das im neoromanischen Stil errichtete Ensemble von Türmchen dient als Aussichtsterrasse mit Sicht über die Donau und Pest.

Elf Brücken führen in Budapest über die Donau. Am bekanntesten ist die zentral gelegene und nachts beleuchtete Széchenyi lánchíd, deren Bau Graf István Széchenyi (1791-1860) anregte. Auf beiden Seiten der Strasse sitzen zwei steinerne Löwen. Die Kettenbrücke wird von zwei triumphbogenartigen Pylonen im Abstand von 202 Metern getragen, durch die die eisernen Ketten des 375 Meter langen Brückenkörpers verlaufen. Die Pläne stammen vom englischen Ingenieur William Tierney Clark, die Bauleitung übernahm 1839 Adam Clark. Nach 10 Jahren Bauzeit konnte das Werk 1849 eröffnet werden. Doch Széchenyi war es nicht mehr vergönnt, über die nach ihm benannte Brücke zu gehen, da er 1848 einen Zusammenbruch erlitt und die letzten Jahre in einer Heilanstalt in Wien verbrachte. Auf der Pester Seite umschliesst der ovale Széchenyi István tér die zur Brücke führenden Strassen. Grosse Statuen verewigen dort István Széchenyi sowie Ferenc Deák de Kehida (1803-1876), einen Begründer der liberalen Bewegung.

Das Magyar Nemzeti Múzeum liegt in einem klassizistischen Prachtbau, der von 1837 bis 1847 errichtet wurde. Graf István Széchenyi schenkte dem Nationalmuseum seine Münzensammlung, andere Objekte des ungarischen Kulturerbes kamen bald hinzu. Am 15. März 1848 sangen protestierende Ungarn vor dem Haupteingang das Nemzeti dal und verlasen ein 12-Punkte-Programm. Massenproteste zwangen die österreichische Regierung zunächst zum Einlenken, bevor es zum offenen Krieg kam, der sich bis zum August 1849 hinzog und mit der ungarischen Niederlage endete. Das MNM präsentiert in einer Dauerausstellung die ungarische Geschichte von den Anfängen bis heute. Mit passenden Objekten und aussagekräftigen Karten wird gezeigt, wie sich z.B. das Staatsgebiet erst über grosse Teile Mitteleuropas erstreckte, um unter den Fremdherrschaften der Osmanen und der Habsburger zu schrumpfen, bevor 1867 durch den Ausgleich mit Österreich das Königreich Ungarn in alter Grösse wiedererstand. Ein Einschnitt brachte der Vertrag von Trianon, der zu den Pariser Vorortverträgen gehört, mit denen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs im Juni 1919 die Nachkriegsordnung absteckten und neue Grenzen in Mittel- und Osteuropa zogen. Für Ungarn bedeutete Trianon der Verlust von Gebieten mit ungarischer Bevölkerung an die neuen Staat Jugoslawien und Tschechoslowakei sowie das deutlich vergrösserte Rumänien. So lebten danach über eine Million Ungarn ausserhalb des neuen Nationalstaats. Während des Zweiten Weltkriegs fanden viele von ihnen «zurück zum Vaterland», als das mit Nazi-Deutschland verbündete Ungarn von der Zerschlagung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens profitierte. Doch unter sowjetischer Hegemonie wurden 1945 die früheren Grenzen wieder hergestellt.

István (969-1038), ein Fürst der Arpaden-Dynastie, führte um 1000 das Christentum ein und wurde erster König von Ungarn. Nach ihm ist die Szent István Bazilika im Zentrum von Pest benannt. Der Bau der grössten Kirche der Hauptstadt begann nach 1848/49 und dauerte über ein halbes Jahrhundert. Seit der Einweihung 1905 dient die Kirche im Neorenaissance-Stil als Kathedrale des Erzbistums Esztergom-Budapest. Die Basilika bietet 8500 Menschen Platz; beeindruckend ist das Tympanon mit Jungfrau Maria als Patronin der Ungarn im Kreise ungarischer Heiliger sowie die 96 Meter hohe Kuppel mit dem Mosaik von Gott, Jesus und den Engeln. In einer Seitenkapelle wird die berühmte Reliquie aufbewahrt: angeblich ist es die einbalsamierte rechte Hand von König István, die hier gezeigt und für ein Geldstück kurz beleuchtet wird. Über 297 Treppenstufen gelange ich zur Balustrade der Kuppel und geniesse von dort einen erstklassigen Rundblick inmitten der Grossstadt Budapest.

Südöstlich der Bazilika liegt das ehemalige Jüdische Viertel von Pest. Dort befinden sich zwei Synagogen. Die grössere ist die 1854-59 im maurischen Stil errichtete Dohány utcai zsinagóga, mit 2964 Sitzplätzen heute die grösste Synagoge Europas. Angegliedert ist ihr das Zsidó Múzeum, das an der Stelle des Elternhauses von Theodor Herzl (1860-1904) steht. Im Februar 1939 bombardierten die faschistischen Pfeilkreuzler die Grosse Synagoge, alliierte Luftangriffe und die Schlacht um Budapest setzten ihr in den Endphase des Zweiten Weltkriegs weiter zu. Die stark reduzierte jüdische Gemeinde nutzte die Synagoge jedoch bald wieder und konnte sie in den 1990er-Jahren komplett restaurieren. Hinter ihr liegt der Raoul Wallenberg Emlékpark. Darin steht der Baum des Lebens, eine Metallskulptur mit eingravierten Namen von ungarischen Opfern der Shoa, und ein Denkmal für den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg (1912-1947/52). In der Nähe ist auch ein kleineres Mahnmal für Carl Lutz (1895-1975) zu finden, der als Schweizer Diplomat ebenso wie Wallenberg mithalf, ungarische Juden vor dem Holocaust zu retten. Seit 2004 erforscht das Holokauszt Emlékközpont in der Pava-Synagoge die Shoa in Ungarn. Viel bekannter als die dortige kleine Gedenkstätte sind jedoch die Cipők a Duna-parton. Nördlich der Kettenbrücke sind seit 2005 rund 60 Paar eiserne Schuhe am Bord der Donau montiert, die sehr plastisch darauf hindeuten, dass zur Jahreswende 1944/45 mehrere Tausend Juden am Strom aufgereiht und mit Kopfschuss ermordet wurden.

Unter dem Prachtboulevard Andrássy út, der in den 1870er-Jahren auf rund 2,3 Kilometern angelegt wurde, verläuft die Földalatti, heute besser bekannt als M1. Bei ihrer Eröffnung im Mai 1896 war sie die erste U-Bahn in Kontinentaleuropa. Bei der Milleniumsausstellung anlässlich der 1000-jährigen Landnahme führte sie die vielen Besucher direkt zu den Ausstellungsbauten im Stadtwäldchen. Zwischen dem kleinen Park und der Hauptachse liegt der Hősök tere. In seinem Zentrum steht das 1939 errichtete, 36 Meter hohe Milleniumsdenkmal, auf dessen Spitze Erzengel Gabriel thront. Ihm unterstellt sind die Reiterstatuen von sieben ungarischen Stammesführern. Links und rechts sind in den Nischen der Kolonnaden je sieben Helden der ungarischen Geschichte verewigt. Jede Zeit verehrt andere Helden. Die an die Macht gekommenen Kommunisten tilgten nach dem Zweiten Weltkrieg die Erinnerung an die Habsburger; die insgesamt fünf Statuen von österreichisch-ungarischen Herrschern wurden deshalb entfernt und durch ungarische Männer ersetzt.

Nicht zu übersehen ist der riesige Schriftzug Terror an der Andrássy út 60. Das Haus im Neorenaissance-Stil war einst in jüdischen Besitz, bevor es von 1937 bis 1944 als Sitz und Gefängnis der Pfeilkreuzler-Partei traurige Bekanntheit erlangte. 1945 übernahm der kommunistische Staatssicherheitsdienst ÁVO das Haus und nutzte es bis 1956 als Foltergefängnis, danach ging es an den Jugendverband KISZ über. Im Jahr 2000 kaufte eine Stiftung das Haus und eröffnete 2002 das Terror Háza Múzeum. Dieses ist dank grosser Werbeanstrengungen gut besucht. Sein Personal ist äusserst unfreundlich und wirkt feindselig; gehört das zum Konzept? Im Untergeschoss werden Folterzellen der Pfeilkreuzler und der ÁVO gezeigt. Implizit werden die Diktaturen der rechten Faschisten und der linken Kommunisten gleichgesetzt. Die Dauerausstellung im Erdgeschoss präsentiert aber weit mehr Material zur kommunistischen Ära als zur Pfeilkreuzler-Zeit. Liegt das nur an der Dauer des Regimes? Auffällig ist ferner, dass das Regime der Pfeilkreuzler nicht näher erklärt wird. So fehlt jeder Hinweis auf das autoritäre Horty-Regime, das sich ab 1932 auf verhängnisvolle Weise an die Achsenmächte Italien und Deutschland angelehnt hat.

Das riesige Gebäude mit der charakteristischen Kuppel an der Donau ist nicht etwa ein Kloster oder eine Kirche, sondern das ungarische Parlament. Das Országház wurde von 1885 bis 1904 erbaut, aber schon 1896 zur Millenniumsfeier eröffnet. Noch in habsburgischer Zeit erhielt Budapest eines der grössten Parlamentshäuser der Welt. Seine Architekten orientierten sich am Palace of Westminster in London. Von 1950 bis 1990 prangte ein grosser Stern von der Kuppel des Országház, der den Alleinherrschaftsanspruch der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei deutlich machte. Vor dem Landeshaus mit seinen 691 Zimmern liegt der Kossuth tér. Auf dem Platz stehen Statuen von Ferenc Rákóczi (1676-1735) und Lajos Kossuth (1802-1894), womit die zwei Anführer der ungarischen Aufstände von 1703-11 und 1848/49 verewigt sind. Mit einem Massaker auf dem Kossuth-Platz begann am 25. Oktober 1956 der ungarische Volksaufstand. An die damaligen Ereignisse erinnert eine kleine unterirdische Ausstellung, zu der man über eine Treppe auf dem Platz gelangt. Etwas weiter weg, versteckt bei einer künstlichen Strassenbrücke erinnert eine Statue an Imre Nagy (1896-1958), den hingerichteten Reformkommunisten.

Im Süden der Metropole liegt der Gellért-hegy. Von der Erzsébet híd her führten Treppen von zwei Seiten zur 7 Meter hohen Statue des Heiligen mit dem erhobenen Kreuz. Eine natürliche Quelle auf dem Berg speist den künstlichen Wasserfall, der unter dem Denkmal abfliesst. Szent Gellért püspök (980-1046) war der erste Bischof von Csanád und hat das Christentum in Ungarn verbreitet. Der Legende nach sollen heidnische Magyaren den missionierenden Bischof von diesem Berg aus in einem Holzfass in die Donau geschleudert haben. 1083 wurde Gellért (mit König Stephan) heilig gesprochen. Heute ist er der Stadtpatron von Budapest, das Denkmal für ihn wurde 1904 eingeweiht. – Von der Spitze des Gellértbergs leuchtet abends die weit herum sichtbare Szabadság szobor. Die riesige Freiheitsfigur mit dem Palmenzweig wurde 1947 zu Ehren der sowjetischen Soldaten errichtet, die Budapest mit der Belagerung und der Schlacht von Budapest (29. Oktober 1944 bis 13. Februar 1945) von der Herrschaft der Pfeilkreuzler und der deutschen Besatzung befreit haben. Für die Ungarn war das eine doppeldeutige Angelegenheit, führte diese «Befreiung» doch wiederum zur 40-jährigen Unfreiheit als Satellitenstaat der Sowjetunion.

Diese Zeiten sind nun definitiv vorbei und nach der Wende änderte sich einiges in Ungarn, was sich auch im Strassenbild bemerkbar machte. Was machen mit alten Denkmälern, die nicht mehr erwünscht sind? Das Problem der sowjetischen Heldenstatuen wurde in Ungarn ziemlich originell gelöst. Rund 13 Kilometer südwestlich vom Stadtzentrum liegt der Memento Park. In ihm fanden Statuen von Karl Marx und Friedrich Engels sowie eine Reihe anderer sowjetischer Ehrenmale nach der Wende eine neue Heimat. Vor dem Eingang ist ein Trabant-Modell ausgestellt, in das man sich setzen kann. Alles wirkt spielerisch und etwas verrückt, aus einer anderen Epoche eben. Doch dass der Kommunismus nicht (nur) eine lustige Zeit war, wird dem Besucher zumindest in der Mitte der Gedenkstätte deutlich gemacht. Da findet sich ein riesiger Stiefel, der an das 1948 errichtete und 1956 gestürzte Denkmal des sowjetischen Diktators Josif Stalin erinnert. Auf Filmaufnahmen wird gezeigt, was es damit auf sich hatte und wie der Aufstand 1956 blutig niedergeschlagen wurde.

Unberührt von der tragischen Geschichte Ungarns im 20. Jahrhundert blieb das römische Erbe. Im nördlichen Stadtbezirk Óbuda liegt der Aquincumi Múzeum és Régészeti Park, eine Ausgrabungsstätte mit angegliedertem Museum. Ausgrabungen legten seit dem 19. Jahrhundert das römische Aquincum frei, die Hauptstadt der Provinz Pannonia inferior. 1889 wurde an diesem Ort die erste Ausstellung eröffnet und 1894 das Museumsgebäude eingeweiht. Spannender als die Objekte hinter Glasvitrinen und die guten Erklärungen ist jedoch zweifellos der Rundgang durch das Gelände. Mit etwas Fantasie lässt sich vorstellen, wie hier einst eine komfortable Römerstadt mit Forum, Bädern und allen anderen Annehmlichkeiten ausgesehen hat.

Budapest bietet ungemein viel Geschichte im öffentlichen Raum und in Museen. Das fand ich bis jetzt nur selten in einer einzigen Stadt. Bei der Erinnerungskultur fallen mir neben der üblichen Verehrung für die eigene Nation zwei Linien besonders auf: Einerseits ein antirussisches Moment. Verständlich, denn russische Truppen trugen 1849 entscheidend zur Niederschlagung des ungarischen Nationalaufstands bei und sowjetische Truppen beendeten 1956 einen weiteren Volksaufstand auf brutale Weise. Deshalb wurden viele kommunistische Symbole nach der Wende rasch entsorgt. Anderseits ist ebenso ein antiwestliches Moment erkennbar; es nährt sich nicht nur aus den Kämpfen gegen die österreichischen Habsburger, sondern fokussiert darüber hinaus auf die aus ungarischer Sicht üble Behandlung durch die westlichen Siegermächte des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Das wichtigste Stichwort dabei ist Trianon, der Vertrag von 1919 wird in Ungarn heute noch als grosses Unrecht beklagt und so in Schulbüchern dargestellt. Aktiv in Erinnerung gehalten wird aber auch die fehlende Unterstützung beim antisowjetischen Aufstand von 1956. Bedroht von mächtigen Nachbarn und im Stich gelassen von falschen Freunden – daraus lässt sich wunderbar ein Opfermythos konstruieren. Die Geschichte wird von interessierten Kreisen instrumentalisiert, um den Mythos wach zu halten. Dieser lenkt ab von dunklen Flecken der Nationalgeschichte, den eigenen Fehlleistungen, die es in Ungarn wie anderswo gibt. Zu denken ist an die Magyarisierungspolitik im 19. Jahrhundert, die besonders in Kroatien verfolgt wurde, was 1849 zum Scheitern der Unabhängigkeitsbemühungen beitrug. Anderseits lenkt die Betonung der Pfeilkreuzler-Diktatur und der deutschen Besatzung am Ende des Zweiten Weltkriegs ab von der langjährigen Horty-Diktatur, die den Boden legte für die ungarische Mitwirkung an der Shoa. Die Geschichte geht weiter. Statt allzu stark die Opferrolle zu betonen und gar eine Gedenkstätte für Trianon zu bauen, täten Ungarns Politiker aus meiner Sicht besser daran, ihren Staat entschlossen im demokratischen Europa von heute zu verankern.

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