Graz

Das Gebiet an der Mur ist seit rund 5000 Jahren besiedelt. In der Römerzeit wurden grössere Strassen angelegt. Im 6. Jahrhundert drangen Slawen vor, die ein Fürstentum gründeten und eine Burg errichteten. Vom slawischen Gradec (kleine Burg) leitet sich der spätere Stadtname ab. Ab dem 8. Jh. zogen Baiern und Franken zu, die Slawen wurden christianisiert. Bedroht wurden sie im 10. Jh. von den Ungarneinfällen. Nachdem Kaiser Otto I. die Ungarn besiegte, liess er in den Randgebieten des Reichs Grenzmarken bilden, die Markgrafen unterstanden. Die Eppensteiner herrschten von 970 bis 1035 über die Mark an der mittleren Mur, 1056 bis 1192 die Traungauer mit ihrem Stammsitz in Steyr. Kaiser Friedrich Barbarossa erhob die Steiermark 1180 zu einem selbständigen Herzogtum. Die Stadt Graz erhielt 1160 das Marktrecht und war ab 1233 von der Ringmauer umgeben. Nach dem Aussterben der Babenberger fiel die Steiermark 1282 an die Habsburger. Seit 1379 regierten sie von der Grazer Burg aus Innerösterreich. Osmanische Angriffe konnten im 16. und 17. Jahrhundert abgewehrt werden. Erzherzog Karl II. gründete 1585 die Universität Graz. Als die Habsburger 1619 dauerhaft Residenz in Wien bezogen, blieb Graz Hauptort des Herzogtums Steiermark. Während der Napoleonischen Kriege besetzten französische Truppen Graz dreimal. Im 19. Jahrhundert erlebte die Steiermark einen wirtschaftlichen Boom mit vielen Firmengründungen. Graz wurde zum Verkehrsknotenpunkt der Südbahn und der ungarischen Westbahn. Nach dem Untergang Österreich-Ungarns wurde aus dem Kronland Steiermark ein Bundesland der Republik Österreich. Die Nationalsozialisten regierten von 1938 bis 1945; am Ende des Zweiten Weltkriegs beschädigten Bombenangriffe die Stadt Graz. 1945 besetzten sowjetische und britische Truppen die Steiermark; sie zogen 1955 ab. Die Grazer Altstadt und Schloss Eggenberg wurden 1999 ins UNESCO-Welterbe eingetragen.

Mit der Schlossbergbahn gelangt man heute in Windeseile von der Altstadt hinauf zum schönen Park beim Uhrturm, wo sich an sonnigen Tagen halb Graz tummelt. Was heute eine Idylle ist, war einst sehr umstritten: Während der Napoleonischen Kriege besetzten französische Truppen Graz 1797, 1805/06 und zuletzt 1809. Der Friedensvertrag von Schönbrunn beinhaltete 1810 die Schleifung der Festung auf dem Schlossberg. Die Grazer Bürger kauften den Uhrturm und den Glockenturm, was die beiden vor der Sprengung durch französische Mineure bewahrte. Ein guter Entscheid, denn was wäre das Stadtbild von Graz heute ohne den charakteristischen und gut sichtbaren Uhrturm?

Die Mur überquerte ich auf der Erzherzog-Johann-Brücke. Auf dem Hauptplatz steht der 1878 errichtete Erzherzog-Johann-Brunnen vor dem 1887-93 erneuerten Rathaus. Johann Baptist J. F. S. von Österreich (1782-1859) war ein jüngerer Bruder von Franz (1768-1835), der als Franz II. von 1792 bis 1806 letzter Kaiser des Heiligen Römischen Reichs war und als Franz I. von 1804 bis zu seinem Tod der erste Kaiser von Österreich. Johann wartete sechs Jahre, bis sein Bruder Franz ihn 1829 die Postmeisterstochter Anna Plochl heiraten liess. Für diese Heirat mit einer Bürgerlichen nahm Johann den Ausschluss von der Thronfolge in Kauf. Das Paar lebte in Graz im Palais Meran. Obwohl er keine öffentliche Funktion bekleidete, wirkte Johann in der Steiermark als grosser Modernisierer. 1811 begründete er das Joanneum als Universalmuseum und technische Hochschule. Auf seine Anregung gingen auch die Gründung der Landesbibliothek, des Landesarchivs, der Steiermärkischen Sparkasse, der Brandschadenversicherungsanstalt und mehrerer Vereine zurück. Während der Hungersnot 1816/17 verteilte er persönlich Kartoffeln und propagierte deren Anbau, woraus die Steiermärkische Landwirtschaftsgesellschaft hervorging. Dank einem Erbe konnte er bald ein Eisenwerk, eine Blechfabrik und Kohlengruben erwerben. Es versteht sich von selbst, dass dieser Industriepionier des frühen 19. Jahrhunderts vehement für den Bau von Eisenbahnen eintrat. Mit Erfolg: ab 1842 wurde die Südbahn von Wien über Graz nach Triest gebaut, 1851 die Köflacherbahn von Graz ins westlich gelegene Industriegebiet. Erzherzog Johann war ein Reformer, ein Wohltäter von oben. Für einen Moment überlege ich mir, wie die Geschichte anders hätte verlaufen können… Gäbe es die Habsburger-Monarchie heute noch, wären der Kaiser und Familienmitglieder wie Johann heute wohl so berühmt wie William oder Harry.

Ein historischer Leckerbissen ist das Landeszeughaus. 1642-44 wurde das landschaftliche Zeughaus errichtet, um Rüstungen und Waffen zu lagern. Vom 15. bis zum 18. Jahrhundert waren die innerösterreichischen Länder Steiermark, Kärnten und Krain durch anhaltende bewaffnete Überfälle und kriegerische Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich und ungarischen Rebellen geprägt. Danach verlor das Zeughaus an Bedeutung. Den steirischen Landständen ist es zu verdanken, dass das Zeughaus erhalten blieb und seit 1882 der Öffentlichkeit zugänglich ist. Um 1700 lagerten fast 190’000 Stück im Zeughaus, heute werden auf vier Etagen rund 32’000 Harnische, Feuerwaffen und Kanonen, Stangen-, Hieb- und Stichwaffen, Kugelzangen und Pulverhörner ausgestellt. Damit gilt das Landeszeughaus Graz als grösste historische Waffenkammer der Welt. Ergänzt wird der furchteinflössende Einblick in Kriege früherer Zeiten durch immer wieder neue Sonderausstellungen.

Das Museum für Geschichte befindet sich im Palais Herberstein gleich unterhalb des Schlossbergs. In der Dauerausstellung 100x Steiermark wird anhand von Objekten vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart gezeigt, wie sich das ehemalige Kronland Steiermark verändert und modernisiert hat. Im Schaudepot werden rund 2000 Objekte aus der viel umfassenderen Kulturhistorischen Sammlung präsentiert. In den Abteilungen Foto, Film und Ton sind auch viele audiovisuelle Quellen zur Steiermark einsehbar. Besonders eindrücklich für Lernende ist die Ausstellung Bertl & Adele, die in Zusammenarbeit mit dem Haus der Namen, dem Holocaust- und Toleranzzentrum Österreich erarbeitet worden ist.

Das Volkskundemuseum am Paulustor beherbergt die älteste und umfangreichste volkskundliche Sammlung der Steiermark. Mit über 40’000 Objekten kann das Museum nicht nur bäuerliche Trachten und Möbelstücke sein Eigen nennen, sondern auch alte Fahrräder, Wäscheklammern, Schützenscheiben und selbst Demon-Transparente aus jüngerer Zeit. Untergebracht ist das Volkskundemuseum in einem ehemaligen Kapuzinerkloster. In den Rundgang eingebaut ist der Einblick in die St.-Antonius-Kirche mit Gemälden aus dem österreichischen Barock.

Das Kunsthaus Graz, das für das Jahr 2003 als Europäische Kulturhauptstadt gebaut wurde, wird wegen seiner ungewöhnlichen Form und auffallenden Farbtönen gerne als Friendly Alien oder Blaue Blase verspottet. Es wurde bewusst am Lendkai gegenüber der Altstadt errichtet und mit dem alten Warenhaus verbunden, um den Südtiroler Platz aufzuwerten und mit der Altstadt zu verbinden. Im Inneren erkenne ich eine gute Organisation und schaue von einem Balkon auf den Fluss Mur. Der Zeitpunkt meines Besuchs fällt leider in eine Phase, als eine Sonderausstellung gerade vorbei ist, aber die nächste noch nicht begonnen hat.

Der Platz vor dem Hauptbahnhof Graz wurde unlängst um ein ovales Dach ergänzt, das den witterungsgeschützten Umstieg zwischen Zug und Bussen erlaubt. Das Rondeau erhielt in einem Leserwettbewerb den Namen Golden Eye. In der Haupthalle entwarf Peter Kogler für das Kulturhauptstadtjahr 2003 eine Kunstinstallation mit einer 2355 Quadratmeter grossen, textilen Kunststoffverkleidung, auf der geometrische Figuren aufgedruckt sind. Mir gefällt dieser Bahnhof und vielen Österreichern auch: regelmässig erhält er Spitzenplätze in entsprechenden Beliebtheitsumfragen.

Vom Bahnhof führt die Hauptachse Annenstrasse hinunter zum Stadtzentrum. Leicht gebogen durchquert die Strasse verschiedene Quartiere, mal sehr gepflegt und teurer, mal deutlich weniger – dieser Spaziergang zeigt viele Seiten der Stadt Graz.

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